Prospekt Israelitische Kinderheilstätte Bad Kissingen 1928 (Mai 2025)

Vorbemerkung: Seit kurzem sind die historischen jüdischen Gemeindearchive aus Bayern online zugänglich, unter anderem auch die der jüdischen Gemeinde Bad Kissingen und des Distriktrabbinats Bad Kissingen.  Die Originalbestände befinden sich aktuell in den Central Archives for the History of the Jewish People (CAHJP) in Jerusalem. Die digitalisierten Dokumente sind auf der Findmitteldatenbank des Bayerischen Staatsarchivsexterner Link für jedermann zugänglich. Für Historiker, jüdische Gemeinden, Familienforscher sowie interessierte Bürgerinnen und Bürger aus aller Welt stellt dies eine unerschöpfliche Fundgrube zur Erforschung der jüdischen Geschichte dar. 

Dr. Pink Philipp Münz: Die Israelitische Kinderheilstätte Bad Kissingen, 1928

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  1. Allgemeines als Einleitung

Auf keinem humanitären Gebiete sind in den letzten zehn Jahren so viele ersprießliche und segensreiche Institutionen geschaffen worden, wie gerade auf dem Gebiet der öffentlichen Kinder und Jugendfürsorge. Sicherlich stellen die Kinderheilstätten, in denen kranken und schwachen Kindern, zumeist aus den ärmeren Volksschichten die kostbarsten Güter der Jugend, Gesundheit und Lebensfrische, wieder gegeben werden, das bedeutendste Denkmal dieser Fürsorge dar. Und wohl in keinem Lande ist das Kinderheilstättenwesen zu einer solchen Blüte und Entfaltung gelangt wie gerade in Deutschland, das mit seinem mehr als 200 Kinderheilstätten, unter denen sich zehn israelitische Anstalten befinden, unter allen Staaten der Welt an erster Stelle steht. Unter diesen Anstalten nimmt gerade die israelitische Kinderheilstätte in Bad Kissingen, welche jetzt alljährlich 400 armen und kranken Kindern allen Teilen Deutschlands ihre Wohltaten zuteil werden lässt, dank ihrer Einrichtung und segensreichen Tätigkeit einen hervorragenden Platz ein.

II. Geschichte der Anstalt

Am 12. Juni 1905, zu einer Zeit, da es in Deutschland nur vier jüdische Anstalten gab, wurde die israelitische Kinderheilstätte in Bad Kissingen in feierlicher Weise ihre Bestimmung übergeben. Freilich reicht der Anfang ihrer Geschichte noch weiter zurück. Schon im Jahre 1899 ging von Herrn Sanitätsrat Doktor P. Münz die Initiative aus, in dem durch seine heilkräftigen Quellen ausgezeichneten Bad Kissingen eine israelitische Kinderheilstätte zu errichten. Nach Überwindung großer Schwierigkeiten, und nachdem Doktor Münz durch Sammlungen  einer größeren Geldsumme eine Grundlage für die geplante Anstalt begründete, gelang es seiner eifrigen Propaganda, das Werk so zu fördern, dass im Jahre 1901 der Verein „Israelitische Kinderheilstätte in Bad Kissingen“ konstituiert werden konnte…

Rasch entwickelte sich die Anstalt, und die Zahl der aufgenommenen Kinder wuchs von Jahr zu Jahr. Während im Öffnungsjahr – freilich bei der Kürze der Zeit – nur 62 Kinder Aufnahme fanden, waren es im nächsten Jahre 112, in den Jahren 1907/1908 je 127, im Jahre 1909 140, im Jahre 1910 schon 169, im Jahre 1912 gar 200, bis die Zahl im Jahre 1925 auf 310 anwuchs.

Um den gesteigerten Ansprüchen Rechnung zu tragen, wurde die Anstalt in den verschiedenen Jahren durch einen Ausbau bereits vorhandene Innenräume erweitert, bis im Jahre 1926… ein größeren Neubau geschaffen wurde, der sich harmonisch dem bestehenden Gebäude anschließt und neben einer Erweiterung der Veranda zwei große Schlafsäle nebst zwei kleineren Wohnräumen enthält, so dass in den Jahren 1926 und 1927 fast 400 Kinder Aufnahme finden konnten.

Am 30. Mai 1926 konnte der Verein in feierlicher Weise in Gegenwart von Vertretern staatlicher und städtische Behörden, sowie zahlreiche Organisationen und Gemeinden das Fest seines 25-jährigen Bestehens begehen.

Auch der Weltkrieg ging an dem ruhigen friedlichen Betrieb der Anstalt nicht spurlos vorüber. In den Jahren 1914-1917 diente die Anstalt Verwundeten und kranken Soldaten als Kriegslazarett. Trotzdem hat die Anstalt, der Not der Zeit Rechnung tragend, auch während dieser Jahre den Betrieb in auswärts gemieteten Räumen, in erster Linie für Kriegerkinder, aufrecht erhalten.

III. Mädchengenesungstätte für erwachsene berufstätige Mädchen und Frauen

Um der in der Nachkriegszeit stärker auftretenden sozialen Not entgegenzusteuern, hat der Verein im Jahr 1920 seinen Wirkungskreis erweitert, indem er in erster Linie berufstätigen, mittellosen Mädchen, welche eine Kur in Bad Kissingen benötigen, durch Gewährung von genügenden Zuschüssen und Vorteilen den Kurgebrauch in Bad Kissingen ermöglichte. Das Bestreben des Vereins geht dahin, für diesen so wichtigen Zweck die notwendigen Mittel aufzubringen, um ein eigenes Mädchengenesungsheim errichten zu können. Bisher wurden vom Verein mehr als 250 Mädchen aus allen Berufsschichten in auskömmlicher Weise unterstützt…

IV. Das Anstaltsgebäude und seine Einrichtung

Die Anstalt, auf dem halben Wege zur Saline auf einer kleinen Anhöhe gelegen, mit dem Ausblick auf die bewaldeten Gebirgszüge der Rhön und die im Tale vorbeifließende Saale, rings von schönen Gartenanlagen und Spielplätzen umgeben, repräsentiert sich als ein äußerst geschmackvoller Sandsteinbau im Renaissancestil. Im Souterrain befinden sich eine große Küche (sogenannte Fleischküche) und eine kleinere sogenannte Milchküche mit Nebenräumen, ein Speiseaufzug, Bügelräume, Vorratskammern sowie eine Wohnung für den Hausmeister. Das Hochparterre enthält das Warte- und Sprechzimmer des Arztes nebst einem Operationszimmer, einen großen Speisesaal, eine gedeckte jetzt vergrößerte Veranda, außerdem zwei Zimmer für die Oberin, mehrere Badekabinen, sowie die erforderlichen Toiletten und eine Waschgelegenheit für die Kinder. Der erste Stock wird durch zwei separate Schlafzimmer, 4 große Schlafsäle, gesondert für Kinder von 5-10 Jahren und für Kinder von 10-16 Jahren, mit den sich anschließenden Balkons, ein zwischen den Schlafsälen liegendes Schwesternzimmer sowie die Toiletten ausgefüllt. Im zweiten Stockwerk befinden sich neben Personal- und Bodenräumen vier große Schlafsäle. Die Garderobenschränke für die Kinder haben auf dem breiten Fluren Aufstellung gefunden. Die Anstalt ist an die städtische Wasserleitung und Kanalisation angeschlossen, sämtliche Räume haben reichlich zu- und abfließendes Wasser, so sind die marmornen Waschtische für die Kinder in den Schlafsälen die Zuleitungen für warmes und kaltes Wasser versehen. Außerdem besitzt die Anstalt eine eigene Solezuleitung für Bäder im Hause. Außerhalb des Anstaltsgebäudes befinden sich das Kesselhaus, das Solereservoir und die Waschküche sowie Liegehalle. Die Ausstattung der Räume erscheint praktisch und doch sehr gediegen und entspricht in allen Teilen den weitgehendsten Anforderungen moderner Hygiene. So sind die Fußböden der Korridore, der Küchen und Toiletten mit Steinplatten belegt, die Fußböden der Schlafsäle und der anderen Räume mit Linoleum und Betonunterlage, die Wände haben teils eine Verkleidung von einfachen oder braun glasierten Platten, teils Holzvertäfelung oder Ölanstrich erhalten. Licht, Luft und Sonne durchfluten alle Räume. Überall hat ein liebevoller Sinn gewaltet, um auch das Kinderherz zu erfreuen und die Anstalt zu einer angenehmen Stätte der Erholung auszustatten.
 

V. Welche Kinder finden Aufnahme

Die Anstalt, auf jüdisch religiöse Grundlage aufgebaut, gewährt in erster Linie Kindern jüdischen Glaubens aus dem ganzen Deutschen Reich – auch Kinder anderer Konfessionen werden berücksichtigt – und zwar Mädchen im Alter von 5-16 Jahren, Knaben im Alter von 5-14 Jahren Aufnahme, welche eine Kur in Bad Kissingen … zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit benötigen. Von Krankheiten kommen deshalb vor allem in Frage: Scrophulose, Rachitis, Blutarmut, Magen- und Darmleiden, Herzaffektionen, Nervosität, Nervenleiden, Gelenkrheumatismus oder sonstige Entwicklungs- und Wachstumsstörungen, wie beifolgende Statistik zeigt, welche die im Jahre 1927 behandelten 393 Kinder und fast fast dasselbe Bild wie in den früheren Jahren aufweist.

Krankheitsstatistik-1927

VI. Behandlung der Kinder und Heilerfolge

Bald nach der Ankunft werden die Kinder, nachdem sie in der Anstalt ein Reinigungsbad genommen haben und der Reinigung des Kopfes besondere Aufmerksamkeit geschenkt ist, von den Anstaltsärzten untersucht. Aufgrund dieser Untersuchung wird der amtierenden Frau Oberin der Plan der Behandlung für jedes einzelne Kind angegeben. Die Behandlung selbst ist in allen Fällen eine strenge individuelle und besteht außer in kräftigender, abwechslungsreicher und dabei streng ritueller Diät, die dem Leiden stets angepasst ist, in Solebädern und Trinkkuren, in Verabreichung von Medikamenten sowie in physikalischer Behandlung, darunter auch mit Höhensonne. Fast den ganzen Tag halten sich die Kinder im Freien auf und machen tagtäglich, lustige Lieder singend, Spaziergänge nach dem nahen Walde oder der Saline. Spiel und Unterhaltung, eine kleine Bibliothek bieten mannigfache Abwechslung, so dass die verwöhntesten Kinder das Heimweh bald vergessen. Die in der Anstalt erzielten Heilresultate sind als vorzügliche zu bezeichnen und sind ein lebendiger Beweis für die segensreiche Tätigkeit der Anstalt. Die Erfolge äußern sich nicht nur in einer oft beträchtlichen Gewichtszunahme, in gesteigerter Esslust und einer Hebung der Kräfte wie der allgemeinen Stimmung, sondern auch in einer Heilung oder Besserung des Grundleidens. Die ärztliche Beratung versehen Herr Sanitätsrat D. P. Münz seit Bestehen der Anstalt sowie mit ihm gemeinsam infolge des vergrößerten Betriebs Herr Dr. Alfred Münz, die außerhalb der Anstalt wohnen und wöchentlich mehrere Male in die Anstalt zur Visite und Kontrolle kommen. Die wirtschaftliche Leitung untersteht der bewährten Frau Oberin Julie Strauß, die wirtschaftliche Kontrolle seit Bestehen der Anstalt Frau Sanitätsrat Dr. P. Münz. Krank und siech ziehen die Kinder in die Anstalt ein, gekräftigt und zu neuem Leben erblüht, verlassen sie dieselbe. Diese Segnungen hat bisher die Anstalt wenn wir das Jahr 1928 einrechnen, 5300 Kindern aus allen Teilen Deutschlands zu Teil werden lassen.

[Abschließende Bemerkung: Die außergewöhnliche Leistung von Dr. Pinkus Philipp Münz’ bestand auch darin, eine finanzielle Basis für die Kinderheilstätte zu schaffen. Die für Erhaltung und Unterhaltung notwendigen Geldmittel wurden nur zu einem kleinen Teil - im Jahr 1927 war es etwa ein Viertel – durch die Verpflegungsbeiträge für die Kinder gedeckt, da nur sehr wenige Kinder die Selbstkosten bezahlen und alle andern zu ermäßigten Preisen oder völlig unentgeltlich Aufnahme fanden. 3/4 des jährlichen Etats mussten also durch Spenden und Mitgliedsbeiträge aufgebracht werden. Einen wesentlichen Anteil dafür hatte der 1901 von Dr. Münz ins Leben gerufene „Verein Israelitische Kinderheilstätte Bad Kissingen e.V.“, dem 1913 bereits 2570 Mitglieder aus 206 Orten angehörten. Ein riesiges, über ganz Deutschland verteiltes Netzwerk von Mitgliedern und Spendern sicherte die Finanzierung der Einrichtung.]

Es handelt sich hier um Auszüge aus einer von Dr. Pinkus Philipp Münz verfassten Broschüre zur Geschichte und Bedeutung der von ihm gegründeten Israelitischen Kinderheilstätte Bad Kissingen.

Quelle: Jüdische Gemeindearchive in Bayern,  CAHJP, Israelitische Kinderheilstätte Bad Kissingen D-Ba4-2, Blatt 113 -124]externer Link