Die Emigration der Bad Kissinger Juden

Anders als in vielen anderen Gedenkbüchern wurden bewusst auch die jüdischen Bürger in der Datensammlung berücksichtigt, die sich während der NS-Zeit durch Flucht und Emigration der Vernichtungsmaschinerie entziehen konnten und überlebt haben. Denn oft war diese Rettung mit dem schmerzhaften Abschied von Heimat und Familie verbunden, verknüpft mit einem schwierigen Neuanfang in einer fremden Umgebung, bei vielen auch mit der quälenden Ungewissheit über das Schicksal der zurückgebliebenen Familienangehörigen, deren Untergang sie oft ohnmächtig und hilflos miterleben mussten.

In den Jahren der NS-Diktatur entschlossen sich viele Kissinger Juden zur Emigration, die Datenbank beinhaltet über 270 Personen, die in dieser Zeit Deutschland verlassen mussten. Die Auswanderung setzte dabei unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten und dem Beginn der ersten Boykottaktionen gegen jüdische Geschäfte und Repressionen gegen jüdische Bürger und Gemeindeeinrichtungen im Jahr 1933 ein. Die in den folgenden Jahren fortschreitende Ausgrenzungs- und Entrechtungspolitik der Nationalsozialisten verfolgte vor allem den Zweck, jüdischen Bürgern die Existenzgrundlage zu nehmen und den Auswanderungsdruck auf sie zu erhöhen. Ihren Höhepunkt erreichte die Emigration - wie in ganz Deutschland - nach dem Novemberpogrom und der „Arisierung“ der jüdischen Geschäfte in den Jahren 1938 und 1939. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges gab es kaum noch Chancen für jüdische Bürger der Shoa zu entkommen. Die letzten Auswanderungen Kissinger Juden sind für das Jahr 1941 belegt, Ende August 1941 gelang es dem Kaufmann Stern und seiner Frau Babette nach Kuba zu emigrieren, bevor das NS-Regime im Oktober 1941 ein generelles Auswanderungsverbot für Juden erließ.

Der Entschluss und Zeitpunkt für eine Auswanderung war häufig vom Alter, vom Vermögensstand, von eventuell vorhandenen Auslandsbeziehungen und auch von der Einschätzung der politischen Lage abhängig. Vor allem junge Leute und Familien mit Kindern beschlossen relativ früh, Deutschland zu verlassen, weil sie eher die Kraft für einen völligen Neubeginn in einem fremden Land fanden und die drohende Gefahr durch das Hitlerregime klarer sahen. Älteren, gebrechlichen und weniger vermögenden Juden fiel dieser Schritt dagegen häufig schwerer, zumal viele von ihnen in ihrem großen Patriotismus die politische Lage falsch einschätzten und dachten, dass die Repressionen ein vorübergehender Spuk seien und es schon nicht so schlimm kommen würde.

Dass viele Kissinger Juden, die sich seit Ende 1938 um eine Auswanderung bemühten, nicht mehr emigrieren konnten, lag neben dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vor allem auch an der restriktiven Einwanderungspolitik vieler Länder.

Dies gilt beispielsweise für das Einwanderungsland Palästina, in das zu Beginn der NS-Herrschaft viele Kissinger Juden zogen, was aber durch die restriktive Einwanderungspolitik der britischen Mandatsmacht gegen Ende der 1930er Jahre zunehmend erschwert wurde. Viele andere Länder versuchten Flüchtlinge durch bürokratische Einwanderungsbedingungen - z.B. Vermögensvoraussetzung oder Bürgschaften durch Bürger des Ziellandes - abzuhalten. Welche tragischen Folgen dies hatte, lässt sich beispielsweise in den Kurzbiografien von Daniel und Anna Liebmann sowie von Anni und Thekla Stern nachlesen, die sich verzweifelt und vergeblich um eine Ausreise bemühten.

ImmigrationCard Ludwig Steinberger

Die wichtigsten Aufnahmeländer für die Kissinger Juden waren die USA, Palästina und England. Bis 1936 stand Palästina an erster Stelle, nicht selten waren es zionistische Überzeugungen, die die Entscheidung für dieses Land begründeten. In den nachfolgenden Jahren emigrierten die meisten Kissinger Juden in die Vereinigten Staaten, gefolgt von England.

Weitere Fluchtländer Kissinger Juden waren Frankreich, Niederlande, Tschechoslowakei, Schweiz, Italien, Jugoslawien, Schweden, Kanada, Kuba, Dominikanische Republik, Trinidad, Argentinien, Uruguay, Brasilien, Südafrika, China, Australien und Neuseeland.

Die Flucht ins Ausland bedeutete auch nicht immer die endgültige Rettung vor der Vernichtung. Eine Reihe Kissinger Juden, beispielsweise Mitglieder der Familie Adler, Bloemendal, Löwenthal und Rosenau, die oft schon frühzeitig in die Niederlande oder nach Frankreich geflohen waren, wurde tragischerweise nach der deutschen Besetzung dieser Länder deportiert und ermordet.