Personendaten


Stein Ruth

Nachname
Stein
Geburtsname
Kantoworicz
Vorname
Ruth
Geburtsdatum
03.12.1905
Geburtsort
Posen
Weitere Familienmitglieder

Eltern: Hugo Kantorowicz und Betty geb. Lissauer
Geschwister: Lieselotte (Lilo) verh. Glich
Ehemann: Fritz Stein
Kinder: Ernst Wolfgang, Heinz Thomas, Uriel Adolf Michael

Adresse

Schönbornstraße 19 (alte Zählung) ("Villa Julia")

Beruf/Ämter
Emigration/Deportation

September 1937 emigriert nach Amsterdam
deportiert nach Bergen Belsen
April 1945 befreit

Sterbeort/Sterbedatum
Jerusalem - Oktober 1993

Biografie


Ruth Margot Stein kam am 3. Dezember 1905 als Tochter des Kaufmanns Hugo Kantorowicz und dessen Frau Betty geb. Lissauer in Posen zur Welt. Ihre Mutter stammte aus Lübeck. Ruth wuchs zunächst mit zwei jüngeren Geschwistern wohlbehütet bei ihren Eltern in Posen auf und besuchte dort bis zur 4. Klasse das Below-Knothesche Lyzeum. Im ersten Kriegsjahr 1914 zog die Familie nach Berlin um. Dort ging Ruth auf die Augustaschule, eine höhere Mädchenschule, und anschließend auf die Fürst-Bismarck-Schule, wo sie 1925 ihr Abitur machte. Sie scheint eine recht selbstbewusste und von ihren Mitschülern geschätzte Person gewesen zu sein, die für die Abiturfeier ihres Jahrgangs ein Lied verfasste und mit anderen Abiturienten vortrug, in dem ihre Lehrer humorvoll auf den Arm genommen wurden.

Im März 1928 heiratete Ruth Dr. Fritz Stein, den Sohn des Inhabers und Generaldirektors der Basaltstein GmbH Schweinfurt, zu der mehrere Basaltwerke und Basaltsteinbrüche in der Rhön und in der Schweiz gehörten.

Nach der Hochzeit zog das junge Ehepaar im Mai 1928 nach Bad Kissingen und wohnte dort bis Oktober in der "Villa Julia" in der Schönbornstraße 19. Daraufhin zogen die Steins nach Schweinfurt ins stattliche Wohnhaus von Ruths Schwiegereltern in der Schultestraße. Im August 1929 kam dort ihr erster Sohn Ernst Wolfgang zur Welt. Auch die Sommermonate 1930 und 1931 war die junge Familie wieder von Mai bis September bzw. August  in der Villa Julia gemeldet. Die Gründe für diesen Aufenthalt in der fränkischen Kurstadt sind nicht bekannt. In den Meldeunterlagen ist nur vermerkt, dass Fritz Stein mit Frau und Kind in Bad Kissingen lebte, jedoch jeden Tag zur Arbeit in seine Firma nach Schweinfurt fuhr.

Seit Herbst 1931 wohnte die Familie wieder ganzjährig in Schweinfurt, wo 1931 und 1935 die jüngeren Söhne Heinz Thomas und Uriel Adolf Michael geboren wurden. Nach dem Tod Adolf Steins im Jahr 1932 übernahmen Ruths Ehemann und sein Bruder Jakob als Direktoren die Betriebsleitung. Max Stein, ihr jüngerer Bruder, der Rechtsanwalt war, vertrat als Syndikus juristisch die Firma.

Dass der Wohlstand dieser jüdischen Familie den Nationalsozialisten ein Dorn im Auge war, wird nicht verwundern und in den nächsten Jahren ließen die Nationalsozialisten nichts unversucht, die „jüdischen Anteile [der Firma] in christliche Hände“ zu überführen (Alfred Saam, Das Basaltwerk Oberriedenberg)externer Link. Schon im Juli 1933 wurde Fritz Stein und sein Bruder für einige Tage in „Schutzhaft“ genommen und bis 1936 verloren die Steins nach und nach all ihre Betriebe und waren wirtschaftlich und politisch gezwungen diese an nichtjüdische Eigentümer abzugeben.

Ruth war im Gegensatz zu ihrem Mann, der der jüdischen Religion und Tradition sehr verbunden war, wenig religiös. Sie ging anders als ihr Mann nicht zur Synagoge, passte sich jedoch in der Ehe den Erwartungen ihres Mannes an und organisierte die Schabatfeiern am Freitagabend und die Festlichkeiten im Haus der Steins an den jüdischen Feiertagen mit viel Hingabe und Begeisterung (Erinnerungen ihres ältesten Sohnes Wolfgang, USC Shoa Foundation, Visual History Archive, Interview mit Wolf Steinexterner Link).

Ruth Stein engagierte sich auch für die zionistische Bewegung, in der ihr Mann als Gründer und Vorsitzender der „Zionistischen Ortsgruppe Schweinfurt“ tätig war. Sie gab bis 1936 Unterricht für jüdische Jugendliche in den Räumen der Kultusgemeinde, veranstaltete „Heimabende“ und hielt dort Vorträge beispielsweise über Thomas Mann und Stefan Zweig. Sie leitete auch die Schweinfurter Gruppe der jüdischen Pfadfindervereinigung „Makkabi Hazair“.

Nachdem Fritz und Jakob Stein ihre Vertretungsbefugnis für die Basaltstein GmbH verloren hatten, zog die Familie Stein im Mai 1936 zunächst nach Hamburg, wo Fritz eine Arbeit gefunden hatte und die Situation weniger gefährlich schien als in Schweinfurt. Ruth und ihr Mann waren sich uneins, wohin sie längerfristig gehen sollten. Ihr Mann Fritz, der überzeugter Zionist war, wäre gerne nach Palästina emigriert, wohin 1931 bereits zwei jüngere Geschwister ausgewandert waren. Er spielte mit dem Gedanken, am Toten Meer ein Industrieunternehmen aufzubauen. Ruth fand das Leben in Palästina dagegen für eine Frau wenig attraktiv. Und so besuchten sie 1936 Palästina, um sich ein Bild vor Ort zu machen. Danach entschieden sie sich gegen eine Auswanderung nach Palästina und emigrierten im September 1937 nach Amsterdam. Dort besaß Ruths Onkel Meno Lissauer eine Firma ("Metals and Minerals Association"), die einen Import/Export mit Metallen, Mineralien betrieb, in der Fritz Stein eine Beschäftigung fand. Familie Stein lebte in den nächsten Jahren in durchaus gesicherten finanziellen Verhältnissen, in den Sommermonaten verbrachte man sogar noch gemeinsam Familienurlaub an der Nordseeküste in Zandvoort.

Auch Ruths Eltern Hugo und Betty Kantorowicz hatten in Amsterdam Zuflucht vor der NS-Verfolgung gesucht. Doch mit dem Einmarsch der deutschen Truppen wurde die Lage für die Familie erneut prekär. Als am 10. Mai 1940 die deutsche Wehrmacht Holland überfiel, zeigte sich, wie unterschiedlich Ruth und ihr Mann in solchen Ausnahmesituationen reagierten. Die holländischen Behörden hatten für alle Deutschen eine Ausgangssperre verhängt und Fritz Stein, der sich immer gesetzestreu und regelkonform verhielt, zögerte etwas zu unternehmen. Ruth dagegen hielt eine sofortige Flucht nach England für geboten. Am 13. oder 14. hatte Ruth ihren Mann schließlich überzeugt, aus ihrer Wohnung Richtung Küste zu fliehen, um mit einer Fähre England zu erreichen. Sie hatten ein Auto organisiert und je näher sie der Küste kamen, desto heftiger wurde das Bombardement deutscher Flugzeuge. Als eine Straßensperre weniger Kilometer vor der Küste eine Weiterfahrt unmöglich machte, versuchten sie mit ihren Kinder zu Fuß die Fähre zu erreichen. Doch schließlich machten ihnen holländische Soldaten klar, dass ihr Bestreben angesichts des deutsche Bombardements glatter Selbstmord sei. Daraufhin kehrten sie am 15. Mai, dem Tag der niederländischen Kapitulation in ihre Wohnung in Amsterdam zurück (USC Shoa Foundation, Visual History Archive, Interview mit Heinz Thomas Stein)externer Link.

Das Leben ging zunächst scheinbar normal weiter, doch mit der deutschen Besatzung kamen ständig neue Einschränkungen und Verbote für jüdische Bürger auf: Sie mussten in der Öffentlichkeit den Judenstern tragen, duften keine öffentliche Parks mehr besuchen, mussten ihre Fahrräder, ihr Auto und Radio abgeben und durften keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr benutzen. Und zwischen 20 Uhr und 6 Uhr morgens galt zudem ein Ausgangsverbot für Juden. Ihre beiden älteren Söhne mussten die öffentliche Schule verlassen und auf eine jüdische Schule gehen. Nach Aussagen von Heinz Thomas besuchte auch Anne Frank diese Schule und war in derr Klasse seines älteren Bruders Wolfgang. Nach und nach verschwanden immer mehr jüdische Bekannte, entweder weil sie mit Hilfe der niederländischen Untergrundorganisation untertauchten oder weil sie von den Deutschen aufgegriffen und deportiert wurden. Auch Ruths Eltern wurden 1942 in Westerbork inhaftiert und im Juli 1943 von dort ins Vernichtungslager Sobibor deportiert, wo beide den Tod fanden.

Bis Mitte 1943 konnte Familie Stein in ihrer Wohnung bleiben, sie gehörten zu den wenigen jüdischen Familien, die bis zu diesem Zeitpunkt von einer Deportation verschont blieben. Als die Razzien der Deutschen aber immer häufiger wurden, wuchs der Druck auf die Eltern etwas zu unternehmen. Erneut waren Ruth und ihre Mann unterschiedlicher Meinung. Fritz Stein, immer gewohnt sich gesetzeskonform zu verhalten, überlegte tatsächlich, sich freiwillig für „eines der besseren" Lager zu melden, in der illusionären Annahme, dass man ihn und seine Familie dort verschonen und besser behandeln würde, aufgrund seiner Verdienste und Auszeichnungen als Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs. Ruth widersprach ihm heftig und sagte, er sei nicht mehr bei Verstand. Fritz Stein glaubte, mit seinem Plan die Familie zusammenhalten zu können, was für ihn oberste Priorität hatte, Ruth entgegnete ihm, wichtiger als zu zusammenbleiben sei zu überleben (ebenda).

Im Sommer 1943 wurden sie mitten in der Nacht von einem Bekannten gewarnt. Er sagte, sie müssten sofort das Haus verlassen, denn am nächsten Tag würden sie sonst verhaftet werden. Es gelang ihnen unbemerkt ihr Haus zu verlassen und für einige Tage in den früheren Geschäftsräumen der Firma, in der Fritz gearbeitet hatte, unterzutauchen. Da hier täglich damit zu rechnen war, dass sie aufgegriffen würden, brachten niederländische Helfer sie in einer zweiten Wohnung unter, wo sie bis zum September blieben. Ruths Mann wurde schließlich von seiner Frau und auch von den niederländischen Helfern der Untergrundbewegung von seiner abwegigen Idee, freiwillig in ein Lager zu gehen, abgebracht und stimmte einer Aufteilung der Familie zu.  

Nach und nach wurden ihr drei Kinder von Mitgliedern der niederländischen Untergrundbewegung in Verstecke auf dem Land gebracht: Ihr jüngster Sohn Michael kam zu einer christlichen Familie in Nijmwegen und überlebte dort den Krieg, ihr zweiter Sohn Heinz Thomas fand bei einer katholischen Bauernfamilie in Swolgen in der Nähe des südholländischen Limburg Unterschlupf. (Seine spektakuläre Überlebensgeschichte schildert er im o.g. Shoa Foundation-Interviewexterner Link). Ihr ältester Sohn Ernst Wolfgang wurde von den Helfern in Ostholland versteckt, zuletzt in Sassenheim. Dort wurde er verraten, im Februar 1944 gefasst und über das Sammellager Westerbork nach Bergen-Belsen deportiert, wo sich auch seine Eltern befanden (Nähere Einzelheiten in seiner Kurzbiografie und in seinem Shoa-Interviewexterner Link).

Ruth Stein, ihr Mann und auch ihr Sohn überlebten die schrecklichen Lagerbedingungen. Als sich britische Truppen in den letzten Kriegswochen dem Konzentrationslager näherten, wurden rund 6800 Häftlinge für den Abtransport nach Theresienstadt in drei Transportzügen ausgewählt. Auf dem letzten der drei Züge befanden sich die Steins. Dieser Zug, der sog. „Verlorene Zug“ oder „Zug der Verlorenen“, erreichte sein vorgesehenes Ziel jedoch nicht und kam nach einer Odyssee durch das unbesetzte Deutschland im brandenburgischen Tröbitz zum Stehen. Während der Fahrt starben 198 Menschen: Einige wurden durch tieffliegende Flugzeuge mit Maschinengewehrfeuer und Bomben getötet, andere starben an Krankheiten und Hunger. Unterwegs war aufgrund der katastrophalen hygienischen Verhältnisse eine Flecktyphusepidemie ausgebrochen, was für viele der geschwächten Häftlinge das Todesurteil bedeutete. Immer wieder musste der Zug anhalten, um die Toten auszuladen und neben der Bahnlinie zu vergraben. Am 20. bzw. 21. April 1945 erreichte der Zug schließlich das zwischen Torgau und Cottbus gelegene Tröbitz. Die gesprengte Elsterbrücke verhinderte die Weiterfahrt. Am Morgen des 23. April 1945 befreiten Soldaten der Roten Armee die Überlebenden, die in vielen Waggons inmitten der Toten lagen. Für die Steins bedeutete dies die Rettung, für 320 andere Mithäftlinge kam jedoch jede Hilfe zu spät. Sie starben in den nächsten Wochen an den Folgen der Typhusepidemie und des Transports (vgl. Wikipedia-Artikel „Verlorener Zug“).   

Am 22. Juni 1945 konnten die Steins in die Niederlande zurückkehren. Sie hatten überlebt, waren aber völlig entkräftet, gesundheitlich angeschlagen und traumatisiert. Ernst Wolfgang, der an Tuberkulose erkrankt war, kam zunächst in eine Klinik und Ruth und ihr Mann wurden vom Roten Kreuz auf einen Bauernhof gebracht, um wieder zu Kräften zu kommen. Erst im Herbst 1945 konnten sie wieder nach Amsterdam in eine eigene Wohnung ziehen. Auch Sohn Heinz Thomas (Tom), der in seinem südholländischen Versteck überlebt hatte, wohnte jetzt wieder bei ihnen. Er hatte sich, nachdem britische Truppen dort eingerückt waren, im Februar 1945 nach Eindhoven durchgeschlagen, war dann kurze Zeit in einem DP-Camp und später bei einer jüdischen Familie, die seine Eltern kannten, untergebracht. Ruths jüngster Sohn Michael, der bei seinen christlichen Pflegeeltern in der Nähe von Nijmwegen überlebt hatte und christlich erzogen worden war, blieb zunächst noch bei seinen Pflegeeltern, bevor auch er in die Familie zurückkehrte. Er hatte seine Eltern bei der Rückkehr nicht mehr erkannt, so dass die Umstellung für ihn nicht einfach war.

Nach dem Krieg fand die ganze Familie wieder in Amsterdam zusammen. Es gibt wunderschöne Fotos im Nachlass von Ruth Stein-Kantorowicz, die ihre Schwester Lilo und ihre drei Kinder beim Musizieren in ihrer Amsterdamer Wohnung zeigen. Ruths Ehemann, der sich nach Angaben seines Sohnes Heinz Thomas nie wirklich gesundheitlich von den Folgen des Lagerlebens erholt hat, starb bereits im Dezember 1956 in Lugano mit 57 Jahren. Ihr ältester Sohn Ernst Wolfgang litt zeitlebens an den traumatischen Erfahrungen während der NS-Zeit und insbesondere seiner Eindrücke von Bergen-Belsen. Heinz Thomas Stein, wanderte 1949 in die Vereinigten Staaten aus. Er stand damals kurz vor seinem 18. Geburtstag und wollte vermeiden, dass er zur niederländischen Armee eingezogen würde und damit Gefahr lief, als Soldat in den niederländischen Krieg zur Rückeroberung der ostindischen Kolonien eingezogen zu werden. In den 1950er Jahren zog er nach Francisco, wo er Psychiater wurde. Dort starb er im Oktober 2014 (Informationen zu einzelnen Familienmitgliedern, „Joods Cultureel Kwartierexterner Link“). Michael, der jüngste Spross der Familie, wurde später Journalist und war ein überaus engagierter Nahostkorrespondent beim „NRC Handelsblad“. Er starb im Juni 2009 in Amsterdam (Nachruf von Steve Winter, NRC Handelsbladexterner Link/

In Memoriam Michael Stein In Memoriam Michael Stein, 28 KB

So hatte die ganze Familie Stein unter dramatischen Umständen die NS-Zeit überlebt und auch Ruths jüngere Schwester Lieselotte, die in die USA emigriert war, konnte dem NS-Terror entkommen. Sie wurde eine berühmte Geigerin und heiratete später den Geiger Jakob Glick.

Ruth Stein hat ihren Mann noch um fast vier Jahrzehnte überlebt, sie starb im Oktober 1993 im Alter von 87 Jahren in Jerusalem (Angaben laut „Joods Cultureel Kwartierexterner Link"). Auf der Datenbank Genicom wird abweichend hiervon der 7. September 1993 als Sterbedatum genannt.

Aus dem Fotoalbum:
 

         


Quellenangaben


Bildnachweise


© Collection Jewish Historical Museum  
Postkarte "Villa Julia" © Katharina Bambach



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