Grußrede Ernst O. Krakenberger
Zur Präsentation des "Biografischen Gedenkbuchs der Bad Kissinger Juden während der NS-Zeit" am 23. Januar 2020 hielt Ernst O. Krakenberger - ein Enkel des aus Bad Kissingen stammenden Isidor Kissinger - die folgende Rede:
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Blankenburg,
liebe Familie Walter,
sehr geehrte Damen und Herren,
es ist mir eine Ehre heute Abend hier in Bad Kissingen eine kurze Ansprache anlässlich der Präsentation des Gedenkbuches über die während der Nazi-Zeit umgekommenen, ermordeten, geflüchteten, emigrierten jüdischen Mitbürger zu halten.
Für die, die mich nicht kennen, darf ich mich kurz vorstellen. Mein Name ist Ernst Krakenberger, geboren am 22. Dezember 1940 in den bereits besetzten Niederlanden. Meine Mutter, Martha, geborene Kissinger, und verheiratet mit Otto Krakenberger emigrierte nach der Kristallnacht, im Januar 1939, in die Niederlande und beide ahnten bereits bei meiner Geburt, was auch dort weiter geschehen würde. Im Februar 1942 kam ich zu einer deutsch-niederländischen Familie und blieb dort „untergetaucht“ wie Anne Frank – mit dem kleinen Unterschied, dass ich diese Zeit überlebt habe – bis meine Eltern im September 1945, nachdem sie eine Odyssee durch verschiedene KZ's (Vught – Westerbork – Bergen-Belsen – Biberach) gemacht hatten und ebenfalls mit viel Glück überlebten, mich wieder zu sich nahmen. Nebenbei, diese Familie Stockmann, bei und mit der ich drei Jahre meiner Jugend verbrachte, wurde von dem Staat Israel / Yad Vashem mit Medaille, Urkunde und Inschrift auf der Ehrenmauer, als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt.
Zurück zu den Kissingers und Bad Kissingen. Mein Großvater Isidor Kissinger war ein Urenkel des Meyer Loeb Kissinger, der Anfang des 19. Jahrhundert (Napoleonische Gesetzgebung, alle Bürger mussten einen Nachnamen haben) den Namen Kissinger annahm, einige Zeit in Bad Kissingen wohnte und mit dem die gemeinsame Geschichte mit Bad Kissingen anfing. Nebenbei, der Urgroßvater unseres weit entfernten und wohlbekannten Verwandten Henry Kissinger und der Urgroßvater meiner Mutter waren Brüder. So blieben einige Mitglieder der Familien Kissinger in Bad Kissingen, andere wie die meiner Mutter zogen gegen Mitte / Ende des 19. Jahrhundert nach Nürnberg oder in Henry's Fall nach Fürth.
Im Juni 2005 organisierten wir das erste Kissinger Familien-Treffen hier in Bad Kissingen und bekamen für dieses Vorhaben seitens der damaligen Stadtverwaltung große Unterstützung. Das Treffen wurde ein Erfolg, ca. 65 Teilnehmer aus insgesamt acht Ländern waren vier Tage in dieser Stadt. Diese Zusammenkunft zeigte, dass die Vergangenheit zwar nicht vergessen war, sondern sowohl von den teils skeptischen Teilnehmern als auch von Bad Kissingen aufgearbeitet wurde. Das Treffen fand überregionales Interesse, die lokale, die regionale Presse und das Bayerische Fernsehen haben davon berichtet.
Zwei weitere Begebenheiten brachten meine Familie und Bad Kissingen weiter zusammen.
Im September 2014 wurden bei dem alten Kissinger-Haus vier Stolpersteine zum Gedenken an die im Holocaust ermordeten Emma – Siegfried – Else und Carola, alle vier Cousins und Cousinen meines Großvaters, in die Straße eingemeißelt. Else Kissinger war die zweite Frau meines Großvaters und Stiefmutter der acht Kinder, unter ihnen meine Mutter, nachdem seine erste Gattin relativ jung, bereits im Jahr 1914 verstorben war.
Im Februar 2018 wurde an weitere drei umgekommene Kissinger Verwandte mit Stolpersteinen erinnert. Die Namen von Ludwig, Ernestine Kissinger (verheiratete Mannheimer) und Cilly (verheiratete Rosenbaum) sind beim Marktplatz verewigt. Zu diesen Stolpersteinen sagte mein Vetter Rabbi Ralph Kingsley (früher Kissinger, er änderte in den USA seinen Namen) folgendes:
„Diese Steine sind ein ewiges Andenken an die Kinder Israels. Was für eine Bedeutung haben diese Steine für die heutigen Generationen. Zu denen sagen wir, dass sie eine Erinnerung sind an Menschen, die einst hier lebten. Jüdische Menschen, die aus keinem anderen Grund ermordet wurden - nur weil sie Juden waren. Diese Steine erinnern uns daran, was passiert, wenn gute Menschen schweigend zur Seite schauen, wenn Unrecht passiert, wenn die Wahrheit pervertiert wird und menschliche Personen zu Nummern degradiert werden.“
Die Stadt Bad Kissingen hat ihr mehr als bestes getan, die Erinnerung an die ermordeten und geflohenen jüdischen Mitbewohner im Gedächtnis der Lebenden präsent zu halten. Das jetzt von der Familie Walter zusammengestellte Gedenkbuch der „Bad Kissinger Juden während der NS-Zeit“ ist ein weiterer Beweis für die ethisch-moralische Gesinnung der Stadt. Ich bin froh und glücklich bei dieser Präsentation anwesend zu sein und einige Worte sprechen zu können.
Vor einigen Wochen habe ich bei einem Interview des Vereines „Zeugen der Zeit-Zeugen“ meine Wünsche für die kommende junge deutsche Generation wie folgt spezifiziert:
- Erinnerung an den Holocaust lebendig halten.
- Besseren Unterricht im Fach Geschichte anbieten.
- Keine Schuldgefühle für die Vergangenheit sondern Verantwortung empfinden.
- Diese Verantwortung für die Geschichte, heute und in Zukunft leben und insgesamt, dem latenten Antisemitismus entgegentreten.
Gerade das heute Abend vorgestellte Gedenkbuch soll der Jugend dabei behilflich sein, dass die Geschichte dieser Zeit, zu der mein Vater einst sagte, dass „die Deutschen ihren Verstand verloren hatten“, nicht vergessen wird, dass die Opfer in Erinnerung bleiben, kurz, wie mein Vetter bei seiner Rede 2018 auch am Ende sagte: „NEVER AGAIN - NIE WIEDER“.
Meinen Dank der Stadt Bad Kissingen und einen ganz speziellen Dank der Familie Walter für die sicherlich viel investierte Zeit und noch mehr Arbeit bei der Zusammensetzung dieses Gedenkbuches.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
ERNST O. KRAKENBERGER
Grußwortsprecher Ernst O. Krakenberger, Nachkomme der Familie Kissinger, mit Gedenkbuch-Autorin Marlies Walter (Foto Sigismund von Dobschütz)